Mitteldeutsche Zeitung

22.10.2001

Ein blinder Passagier auf dem Narrenschiff

Felsenstein inszeniert Lortzings «Zar und Zimmermann»

Von Andreas Hillger  
 
Dessau/MZ. Zu dieser frühen Stunde jagt der Hahn seine Hennen aus den Federn, um wenig später vor der schnatternden Brut wieder in den Korb zu flüchten. Die Witwe Browe lässt die krachledernen Arbeitsschürzen der Zimmerleute von der Leine und betrachtet gähnend den „Fliegenden Holländer“, die in Saardam auf Reede liegt. Und nachdem bereits die ganze Zeit Musik in der Luft lag, weckt nun ein mächtiger Männerchor die Müßigen: „Greifet an!“ Bereits die ersten Momente von Albert Lortzings „Zar und Zimmermann am Anhaltischen Theater Dessau versprechen, was volle drei Stunden halten werden: Pralles, populäres Musiktheater, die dem Johannes Felsenstein alle seine Regie-Stärken ausspielen kann.  
 
Die liegen weniger in einer intellektuellen Abstraktion als vielmehr in einer sinnlich zupackenden Aneignung, für die Lortzings komische Oper wie geschaffen scheint. Denn die Geschichte des als Handwerker verkleideten Herrschers bietet eben nicht nur kuriose Verwechslungen und Verstellungen, sondern auch ein Beispiel für Größe und Grenzen eines aufgeklärten Fürsten. Und mit diesem belehrenden Unterton der Unterhaltung kann man Moral behaupten, ohne moralisieren zu müssen.  
 
Felsenstein tut es dezent, aber deutlich. Zwischen deftigen Wirtshausschlägereien und daraus hervorhinkenden Invalidenchören, zwischen zärtlichen Tändeleien und konspirativen Treffen bleibt sein Zar Peter ein um Freundlichkeit bemühter Fremder, der sich wahre Gefühle nur in der Einsamkeit gestattet. Dann zerbricht er das Lineal und benutzt den Zirkel als Waffe, schreitet den Weg zwischen Thron und Lehnstuhl als Lebensreise aus: Die aufgeklärte Selbstbeherrschung weicht maßlosem Zorn, Zepter, Krone und Stern drücken sichtlich zu Boden.  
 
Doch solche Bilder bleiben wertvoll, weil sie selten sind: Lortzings Oper ist in ihrem Gestus demokratisch, selbst wenn der Meister aller Bürger nicht mal als Lehrling taugt. Rainer Büsching begreift die Rolle des van Bett als willkommenen Anlass zum radikalen Fach-Wechsel: Der seriöse Bass verwandelt sich in einen schrägen Buffo, dessen tänzelnde Gestik der Bahn jedes Gedankens durch die wenigen Hirn-Windungen zu folgen scheint. Dieser beherzte Schritt vom ewigen Sarastro zum "zweiten Salomon" bildet die größte Überraschung inmitten einer überaus homogenen Besetzung, in der sich Ulf Paulsen als Zar trotz angekündigter Indisposition mit majestätischer Kraft behauptet. Christina Gerstberger (Marie) und Bernd-Michael Krause (Iwanow) singen und spielen ein hinreißendes, Herz über Kopf verliebtes Paar, das seiner Jugend funkelnde Augen und strahlende Stimmen verdankt. Das Triumvirat der Gesandten schließlich ist ein außenpolitischer Scherz, die Besetzung der Nebenrollen ein hausinternes Vergnügen . . .  
 
Ein weiterer Star des Abends aber ist der Chor, den Felsenstein aus der Dekoration in die Charakterzeichnung führt. Ob als schmachtende Lockenwicklerinnen oder als holzschuhklappernde Schwanensee-Ballerinen, als trinkfeste Zimmerleute oder verkaterte Schmerzensmänner - so viel Spielfreude war selten, so viel Selbstironie nie.  
 
Dass Fridolin M. Kraska mit seinem Bühnenbild einen zurückhaltenden, aber atmosphärisch wandelbaren Raum geschaffen hat, der zusammen mit Cordula Stummeyers Kostümen den alt-niederländischen Genre-Holzschnitten eine feine Kolorierung verleiht, erhöht das optische Vergnügen. Da die Anhaltische Philharmonie unter Leitung von Golo Berg den lustvoll lärmenden Volks- und den leise raunenden Diplomatenton gleichermaßen trifft, segelt das Narrenschiff mit blindem Passagier aber auch akustisch stets vor dem Wind und in sicheren Gewässern. Berg lässt seine Musiker schnarren und schmeicheln, tänzeln und marschieren - und hält auch den durch die enorme szenische Bewegung erschwerten Kontakt zwischen Orchester-Kanal und Bühnen-Ufer zumeist souverän.  
 
Dass Felsensteins "Fliegender Holländer" demnächst übrigens wirklich generalüberholt und auf Fernost-Fahrt geschickt wird, ist übrigens kein schlechtes Omen für "Zar und Zimmermann": Spätestens im November ist der Kahn zurück - und braucht neue Planken.  
 

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